Die Ethik des Jenseits
Wie die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod unser Handeln beeinflusst
Salam, Du schöne Seele!
Lass uns kurz wiederholen: Die Theorie eines gesunden Glaubens fußt auf drei Säulen: 1. einen werteorientierten, gerechten, menschenaufwertenden Gott, 2. ein jenseitiges Leben, das die Konsequenzen unseres Handelns offenbart und 3. gute, nützliche, menschenaufwertende und umweltdienliche Handlungen.
Heute geht es um die zweite Säule:
Die Konzepte des Todes und des Jenseits sind seit jeher zentrale Themen in allen Religionen, Kulturen und philosophischen Diskursen. Sie haben tiefe Auswirkungen auf unser Verständnis von Ethik und Moral. Insbesondere betont die Annahme eines jenseitigen Lebens die Wichtigkeit ethischen und moralischen Handelns. Aber wie genau?
Der Glaube an ein Jenseits hat großen Einfluss auf unser Handeln. Denn wenn wir wissen, dass es ein Leben nach dem Tod geben kann, denken wir an eine Fortsetzung. Eine Fortsetzung unseres bisherigen Lebens. Was bedeutet das für unser Handeln? Gegenfrage: Was wäre, wenn wir hundertprozentig wüssten, dass unsere Existenz begrenzt ist? Dass alles, was uns und unsere Mitmenschen ausmacht, nur auf dieser Erde ist? Für manche mag das ernüchternd klingen, weil es ihnen an Sinn mangelt, für andere mag es eine Motivation sein, alle Ressourcen in das diesseitige Leben zu investieren, weil es das Wichtigste ist. Ja, und manche versuchen, das diesseitige Leben wegen seiner vermeintlichen Endlichkeit ganz aufzugeben – ohne Rücksicht auf Verluste. Egal für welche Variante man sich entscheidet, sie sind der Maßstab für das eigene Handeln.
Wenn wir aber wieder an die Kontinuität, an das Jenseits denken, handeln wir nachhaltiger. Und das nicht nur in Bezug auf die materielle Welt – es ist gerade die mataphysische Dimension, das Leben nach dem Tod, die uns an die möglichen Folgen unseres Handelns denken lässt. Wir sind immer bestrebt, ethisch und verantwortungsvoll zu handeln.
Nicht zuletzt wegen unserer Vorstellung von Gott und seinem Wesen. Denn ein allwissender, allmächtiger Gott, der unsere Taten sieht und beurteilt, lässt uns über unser Handeln nachdenken. Allerdings können diese beiden Eigenschaften Gottes auch Druck und Ängste auslösen, wenn wir nicht verstehen, worum es Gott geht. Deshalb ist es an dieser Stelle wichtig, dass wir uns die erste Säule vor Augen führen: Diese zeichnet das Bild eines werteorientierten, gerechten und menschenaufwertenden Gottes. Der Druck und Angst, die möglicherweise aufkommen, wenn man Gott nur als allwissend und allmächtig in Kombination mit den Vorstellungen von Gelehrten und religiösen Obrigkeiten – die nicht selten negativ behaftete Aspekte beinhalten – versteht, können sich auflösen, wenn kein verzerrtes Gottesbild besteht. Denn durch die wahren Eigenschaften Gottes verschiebt sich der Fokus unseres Handelns. War er vorher auf gruppenbezogene Faktoren wie Zugehörigkeit und Loyalität zur „einzig wahren“ Gruppe gerichtet, so liegt er jetzt auf die Loyalität zur Ehrlichkeit, Würde, Aufrichtigkeit, Fairness, Transparenz und vielem mehr.
In diesem Sinne können wir uns das Jenseits als das Ergebnis unseres Handelns verstehen. Wir gestalten unsere Ewigkeit mit. Wir, wenn man so will, sind die Architekten unserer eigenen Ewigkeit. Indem wir uns stets und aufrichtig bemühen, uns für das Gute, das Nützliche, das Menschenaufwertende, das Umweltdienliche zu entscheiden, schaffen wir im Hier und Jetzt ein Paradies, das sich im Jenseits fortführt. Das Jenseits ist weit mehr als ein Ort der Bestrafungen und Belohnungen. Es ist das Produkt unserer Handlungen und Entscheidungen.
Weg vom Leben nach dem Tod kann der Glaube an das Jenseits auch auf und vor allem auf dieser Erde ein wertvolles Ventil sein. Es kann uns dazu inspirieren, ein Leben zu führen, das von Mitgefühl, Respekt und Liebe geprägt ist. Es ermutigt uns, über den augenblicklichen Moment, die illusorische Gruppenzugehörigkeit, die egoistischen Beweggründe hinaus zu denken und das größere Bild unserer Existenz zu berücksichtigen.
Indem wir uns auf die möglichen Konsequenzen unseres Handelns für unser jenseitiges Leben konzentrieren, können wir dazu beitragen, eine gerechtere und liebevollere Welt zu schaffen, sowohl in der Gegenwart als auch für die Ewigkeit. Denn letztlich ist die größte Lektion, die wir aus der Vorstellung eines jenseitigen Lebens ziehen können, dass jede unserer Handlungen zählt und wir stets die Möglichkeit haben, unser Leben und das Leben derer um uns herum zum Besseren zu verändern.
Das Ergebnis unseres Lebens nach dem Tod ist somit kein vorherbestimmtes Ergebnis, sondern ein dynamischer Prozess, der sich durch unsere Taten in dieser Welt formt. Allerdings braucht es Erinnerungen. Noch vor wenigen Tagen fuhr ich auf einer Straße, auf der nur 50 km/h erlaubt waren; aber wer achtet schon darauf. Doch auf dieser Straße war eine Anzeigetafel installiert, die die aktuelle Geschwindigkeit und ein entsprechendes Smiley anzeigt. Fährt man innerhalb der zulässigen Geschwindigkeit, erscheint ein grünes, lächelndes Smiley. Überschreitet man diese, ist ein rotes, trauriges Smiley zu sehen. Just als ich das rote Smiley sah, nahm ich den Fuß vom Gaspedal und passte die Geschwindigkeit an.
Eine solche Anzeigetafel ist eine gute Erinnerungshilfe. Solche Erinnerungshilfen findet jeder in seiner Religion, in seiner Kultur. Sie zeigen sich in Gebeten, in Gedenken, in Meditation, in Fastenzeiten und Pilgerfahrten etc.
Und dennoch. Dennoch gibt es Menschen, denen die Erinnerung egal ist. Sie sehen, dass sie zu schnell fahren. Sie sehen das traurige Smiley, die damit verbundene Gefahr und gehen nicht runter vom Gas. Sie nehmen die Gefahr billigend in Kauf. Auf ein solches Verhalten können schlimme Konsequenzen folgen, wenn – Gott bewahre – ein Unfall verursacht wird. Dasselbe gilt für den Glauben. Wenn man z. B. durch das Gebet, durch die Verbindung, die man dabei bewusst zu Gott aufbaut, daran erinnert wird, dass Lügen, Betrügen, Unterdrückung von Menschen, Zerstörung der Umwelt Grenzen sind – wie Geschwindigkeitsbegrenzungen -, die man nicht überschreiten darf, und diese Grenzen bewusst überschreitet, dann schafft man Schaden und Leid. Und das ist die Hölle, die man im Hier und Jetzt erschafft und die sich im Jenseits fortsetzt, wenn man nicht zur Besinnung kommt. Wenn man nicht zur Besinnung kommt (z. B. beim Gebet, die gesprochenen Worte, ihren Inhalt, ihre Bedeutung) und sein Verhalten dementsprechend anpasst, läuft man Gefahr, Schaden und Leid anzurichten.
Und schließlich kann die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod, in Verbindung mit einem werteorientierten, menschenaufwertenden und gerechten Gott, eine Quelle der Stärkung sein. Wie oft kommt es im Leben vor, dass wir uns davor scheuen, für das Richtige einzustehen, weil wir Angst vor Ablehnung, Ausgrenzung oder Kritik haben? Das Wissen darüber, dass es jedoch etwas viel Größeres und Fortwährendes gibt, das all unsere Vorstellungskraft übersteigt, kann dabei helfen, die Angst zu besänftigen oder gar zu überwinden. Vor allem dann, wenn wir uns im Klaren darüber sind, dass wir die Verantwortung dafür tragen, wie diese Unendlichkeit aussehen kann.
So befähigt uns der Glaube an das Jenseits, über vorübergehende Schwierigkeiten hinauszusehen und den Mut zu finden, die göttlich gewollten Werte zu vertreten und für das zu sprechen, was richtig ist.
In diesem Sinne lasst uns nicht blind an den Erinnerungen gehen.
In schöner Bälde