Die verkannte Macht religiöser Riten
Beten, Fasten, Pilgern – alles nur, um Gott näherzukommen? Ich verrate euch, wieso viel mehr hinter diesen Riten steckt, als wir denken.
Willkommen zurück, ihr schönen Seelen. Wer mich kennt und meinen Content verfolgt, weiß, dass ich überzeugt bin: Es ist Ramadan. Deshalb faste ich und wie jedes Jahr, stelle ich auch dieses Mal fest: Der Verzicht auf Essen und Trinken beeinflusst unsere Wahrnehmung immens.
Ich meine, habt ihr euch schon mal Gedanken darüber gemacht, weshalb wir essen? Je nachdem, wie privilegiert Mensch ist, möchte ich nicht leugnen, dass das eine oder andere Gericht besonders verlockend und appetitanregend sein kann. Aus rein biologischer Sicht ist es aber nicht das leckere Gericht, das uns zum Essen veranlasst. Vielmehr ist es ein Bedürfnis, das wir stillen wollen. Das kann Hunger sein – aber auch seelische Unausgeglichenheit. Das merken wir insbesondere immer dann, wenn wir körperlich oder mental satt sind und wir das vor uns liegende Essen – so schmackhaft und deliziös es aussehen mag – nicht anrühren. Denn wir verspüren kein Bedürfnis danach. Das gilt für die unterschiedlichsten Handlungen im Leben; auch für die religiösen Riten.
Viele Menschen nehmen an, dass diese Riten einfach eine Pflicht sind, die uns Gott auferlegt hat, weil er nun mal Gott ist und er angebetet werden will oder muss. Andere glauben, dass diese Riten – und das zeigen entsprechende neurowissenschaftliche und psychologische Studien, die sich damit beschäftigt haben – eine unterstützende Ressource sind, die uns bei Angst und Trauer begleiten kann. Aus letzterem ergibt sich das Verständnis, dass Religion eine Art Sicherheitsnetz ist.
Das stimmt zwar, passiert aber nur beiläufig. Die Hauptbotschaften aller Religionen, die sich in ihren Anfängen, Schriften sowie aktuellen Erkenntnissen finden, zeigen: Religionen stellen den Status quo infrage und fordern Veränderungen heraus. Dies zeigt sich in den Herausforderungen von Propheten wie Noah, Abraham/Ibrahim, Moses, Siddhartha, Jesus und Muhammad, die transformative Bewegungen initiierten. So ermöglichen Religionen einen Vergleich zwischen dem aktuellen Zustand und einer (Ideal)Vorstellung, wie der Zustand besser sein könnte. Sie alle eint die transformative Bewegung, die sie angestoßen haben.
Das ist allerdings nur deshalb möglich, weil wir und unsere Umwelt so beschaffen sind, dass Veränderungen stets möglich sind. Wir, als Individuen und Gesamtgesellschaft, sind daher in unserer wandelnden Umwelt stets Gegenstand von Veränderung. Wer wir sind, ist deshalb nicht in Stein gemeißelt. Sich darüber im Klarem zu sein, ist deshalb so bedeutsam, um nicht der deprimierenden Vorstellung zu verfallen, nichts an seinem Zustand ändern zu können.
Diese transformative Kraft der Religionen wird durch eine Vielzahl von Werkzeugen vermittelt, die helfen können, das bestehende Selbst und damit die eigene Umwelt aufzuwerten. Diese Werkzeuge zeigen sich in Form von Glaubenssätzen, Gedenkzeremonien, Gebeten, Meditationen, Pilgerreisen, Fasten, die wiederum verschiedene Formen annehmen können.
Durch das Praktizieren solcher Rituale und ähnlicher Handlungen kann eine Entkoppelung vom Ego und ein Gefühl des Eingebettetseins in etwas Größeres entstehen. Diese Erfahrung vermittelt ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Göttlichen, das, je nach Intensität, Teile unseres Handelns oder sogar unsere gesamte Lebensweise beeinflussen kann.
Um auf das Fasten und meine Erfahrungen damit zurückzukommen, möchte ich die Rolle der Achtsamkeit in diesem Zusammenhang hervorheben.
Mit dem Verzicht und den Auswirkungen auf meine Wahrnehmungen im Alltag, komme ich nicht umhin, mich zu fragen, was ich meinem Körper an Nahrung zufüge. Vor allem, nachdem ich gelernt habe, dass Fasten eine Zellreinigung (Autophagie) begünstigt. Fast automatisch erfolgt das Hinterfragen meiner Essgewohnheiten einen Monat lang. Es ist also eine Art Übung, jeden Tag für eine gewisse Stundenzahl auf Essen und Trinken zu verzichten und sich zum Abend hin gut zu überlegen, was ich an gesundem Essen konsumiere. Daraus habe ich gelernt, dass Nahrung eine den Körper in seiner Gesundheit und Vitalität unterstützende Ressource sein sollte.
Was wäre, wenn wir uns daran gewöhnen würden, unsere Ernährung bewusster zu gestalten? Die Antwort ist, dass wir ähnliche positive Veränderungen in anderen Bereichen unseres Lebens sehen können. Das betrifft unsere Familie, unsere Freunde, unsere Arbeit und unsere Weltanschauung. Besonders durch Rituale wie Gebet, Gedenken und Meditation können wir diesen Veränderungsprozess verstärken und intensivieren.
Wenn wir über unser Gehirn nachdenken, stellen wir ständig Erwartungen auf, nach denen wir unser Verhalten ausrichten, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind. Dafür erzeugen wir ständig ein Modell unseres Selbst, das die entsprechenden Handlungen ausführt. Beispielsweise dann, wenn wir in angespannten Situationen ruhig reagieren und nicht sofort losbrüllen. Und das geschieht, weil unser selbst geschaffenes Selbstbild das eines, besonnen, weisen Menschen zeichnet.
Zurück zu den Riten, bedeutet dies, dass wir sie als Stützen sehen können, die uns daran erinnern, wie wir unser Leben verbessern können, wenn die Umstände schwierig erscheinen. Sie können uns aber auch daran erinnern, dankbar zu sein, wenn das Leben besonders schön ist. All dies mit den Instrumenten, die uns zur Verfügung stehen: Unsere Sinne, die uns helfen, unsere Umwelt wahrzunehmen, und unsere Fantasie, die es ermöglicht, uns eine schönere Zukunft vorzustellen. Diese Vorstellungskraft ist der Beginn einer neuen Lebensrealität, die wir schaffen.
Bekannte Beispiele sind etwa Erzählungen über Propheten, die durch eine oder mehrere spirituelle Erfahrungen ein Wohin in Form einer Vision erhielten. Sie
verglichen ihre Vision (imaginäre Simulation) mit den herrschenden Zuständen, forderten damit den Status quo heraus und setzten damit einen Veränderungsprozess in Gang.
Religion ist damit eine unheimlich starke Technologie, die es vermag, das Selbst und damit die Gesellschaft zu transformieren. Das kann – ausgehend von dieser Theorie – auf einer einfachen, also konfliktfreien Weise erfolgen. Jedenfalls dann, wenn sich die Religionsanhänger auf gemeinsame Werte und Prinzipien einigen könnten.
Lasst uns kurz zusammenfassen und innehalten. Wir und die Umwelt sind also untrennbar. Und die Religion? Das machtvollste Instrument für Veränderungen. Worauf mag dieses Instrument wohl ausgerichtet sein? Nun, wenn es etwas Typisches für Verbindungen und ihre Folgen gibt, dann ist es die Stimmigkeit, die sie erfordern. Es muss passen.
Und doch gibt es bei all diesen Ausführungen einen Haken: Dogmatisierung. Wenn ein Religionsverständnis, nach welchem ausschließlich die eigenen Riten, die einzigen zum Heil, zum Paradies, zum göttlichen Wohlgefallen führen können, wird die ursprüngliche Ausrichtung auf die Aufwertung von Mensch und Umwelt verschoben. Stattdessen rückt die Aufwertung der eigenen Gruppe und der unterschwelligen Abwertung der anderen in den Fokus. Diese Verschiebung dient dann zementierend für die Exklusivität der Gruppe und erschwert den einzelnen Menschen den Zugang zur eigentlichen Macht religiöser Riten: Die entstandene Dogmatisierung herauszufordern.
Die Lösung? Sich auf den Inhalt dieser Riten zu besinnen und Gott als die ursprüngliche und ausschließliche Quelle des Glaubens zu verstehen. Und das geschieht mit Sicherheit nicht damit, dass Menschengruppen als eine weitere, neben Gott herrschende Autorität qualifiziert werden, die das Göttliche zu widersprechen vermag.