In meinem Herzen habe ich eine Mischung aus Wut und Trauer getragen. Wut auf die Gelehrten, die diese verzerrte Version vom Glauben verbreiten und nie konsequent den Rahmen, den sie selbst gelernt haben, zu hinterfragen wagten. Wieso sollten sie, magst du dich vielleicht fragen. Sie sollten es deshalb, weil sie eine derart radikale Idee propagieren, die sie meiner Meinung nach schon dazu ermutigen sollte, dies zu tun und weil sie sich für die Verantwortung, als Ansprechpartner für eine religiöse Gemeinschaft zu fungieren, entschieden haben. Denn es gibt nur einen Gott, der all das hier erschaffen hat. Und nur ihm allein obliegt zu entscheiden, was richtig und was falsch ist – wer sonst, sollte besser in der Lage dazu sein? Immerhin sollte ein Schöpfer seine Schöpfung am besten kennen. Und trotzdem gibt es so viele Menschen, die zu Autoritäten wurden und sich anmaßen, die Aufgaben Gottes anzunehmen. Ja, sie streiten sich förmlich darum. Alle möchten sie darüber entscheiden, was erlaubt ist und was nicht; sie möchten bestimmen, was gut und was schlecht ist.
Gefühlt rechnet der Islam mit all diesen Menschen ab. Im Koran lesen wir, dass es keine andere Gottheit, keine höhere Instanz, keine Autorität gibt, die dies tun darf, außer die uns und die Natur erschaffen hat. Die Idee vom alleinigen Richter ist so wertvoll. Denn sie entzieht den Menschen, egal in welcher Position sie sich befinden, ihre Autorität, wenn sie versuchen, eine göttliche Rolle einzunehmen. Sie ist vor allem aber wertvoll, weil sie uns vor Willkür und Unrecht schützt. Diese Idee ist in der Lage, uns vom Unrecht und dem Druck, der von den aufgezählten Autoritäten ausgeht, loszulösen.
Und was haben Gelehrte daraus gemacht? Sie haben diese Idee verwässert. Denn sie erweiterten sie derart, als wenn sie als Vermittler Gottes eingesetzt worden sind, die dazu befähigt sind zu entscheiden, bewerten und zu richten. Sie haben in diese machtvolle Idee das installiert, was diese Idee selbst vehement bekämpft: Das Beigesellen einer weiteren autoritären Instanz und qualifizierten ihre Idole zu einer weiteren Gottheit.
Falls du dich immer noch fragst, wieso diese ernannten Oberhäupter ihre religiösen Rahmen hinterfragen sollten, dann wisse: täglich werden sie als Ansprechpartner ihrer Gemeinde mit Zweifeln, Fragen und Sorgen konfrontiert. Haben sie nicht genug Gründe, ihre Glaubensgrundlagen reflektiert und gesund analytisch zu hinterfragen? Gerade sie, als privilegierte Experten, verfügen über Zugänge zu Wissensquellen, die der Masse aus unterschiedlichen Gründen verwehrt bleiben. Anstatt dies zu tun, nutzen sie ihre Position in mannigfaltiger Weise, um das Konstrukt ihrer Vorväter aufrechtzuerhalten. Und das zwar mit scheinbar relativem Erfolg, aber zu einem hohen Preis, den sie nicht sehen können oder wollen. Den Preis zahlen indoktrinierte Kinder, unterdrückte Frauen, leidtragende Familien und Männer, die sich in eine Rolle zwingen, die sie zu Unterdrückern machen.
Daher rührt meine Wut – denn meiner Meinung nach ist dies nichts anderes als reiner Machtmissbrauch. Für mich Anlass genug, mein gesamtes Glaubensbild zu überdenken und umzukrempeln. Viel zu wertvoll und mächtig empfinde ich die wahre Idee des Islams, als dass ich den Überbau, den Gelehrte darüber gestülpt haben, weiter mit ansehen konnte.
Nun zur Trauer. Sie trifft mich schwer. Denn es geht um die Trauer für all jene Menschen, die durch diese Fehlinformationen irregeführt werden. Man hat sie von klein auf derart indoktriniert, dass sie nicht in der Lage sind, frei zu denken, ohne in Angst oder Panik vor Ausschluss oder Strafe zu geraten. So sehr, dass sie auch beim Erkennen der offenbaren Probleme nicht bereit sind, sie grundlegend anzugehen. Denn das bedeutet auch ein Aufgeben all dieses langen Weges des Kampfes in der Gesellschaft, sich durchzusetzen, anerkannt zu werden. Eine kopftuchtragende Frau sagte mir einst: “Das soll alles umsonst gewesen sein? Mein ganzer Weg, mich in der Gesellschaft zu behaupten, soll umsonst gewesen sein?” Ich vernahm in ihrer Stimme die Hilflosigkeit und die Frustration, der sie ausgesetzt war, sollte sie wirklich frei denken und das Fundament, auf dem sie glaubt, ihre Religion zu bauen, hinterfragen.
Ich empfinde Trauer für sie und all jene Menschen, die nach Orientierung und Trost, nach innerer Ruhe und Frieden in der Religion suchen, aber stattdessen auf Abwege gebracht werden.
Aber was bedeutet das für mich persönlich?
Eines der wichtigen Prinzipien in meinem Leben sind Authentizität und Transparenz: zwei Eigenschaften, die ich früher nicht lebte. Weder als Kind noch als Jugendlicher und einen Großteil meines bisherigen Erwachsenendaseins. Wut und Trauer wurden mir als nicht willkommene Gefühle anerzogen: Zuhause schon nicht und in der Schule oder auf der Arbeit sowieso nicht. Alles sollte friedlich und harmonisch erscheinen. Aber das ist ein Schwindel, ein Betrug an unsere Natur.
Man sagt, Wut sei ein schlechter Ratgeber. Das mag in manchen Fällen zutreffen. Denn Wut kann dazu führen, dass wir überreagieren, dass wir uns selbst und andere verletzen. Das passiert allerdings deshalb, weil wir von klein auf nicht an die Hand genommen wurden, um zu lernen, wie wir mit unserer Wut gesund umgehen können. Denn Wut ist ein Signal für Unrecht. Wut zeigt uns, dass etwas gewaltig schiefläuft. Und genau deshalb kann Wut ein Motor für Veränderung sein. Wut kann uns dazu bringen, aufzustehen und zu sagen: „Das ist Unrecht! So bin ich nicht bereit, weiterzumachen. Es muss etwas verändert werden!“ Wut kann uns also dazu bringen, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen, für das Recht und die Wahrheit einzustehen.
Was ist mit der Trauer? Trauer kann lähmen, uns in Dunkelheit und Verzweiflung versinken lassen. Aber auch das ist der Tatsache geschuldet, dass wir es nicht gelernt haben, mit Trauer gesund umzugehen. Denn Trauer hat eine wichtige Funktion. Sie erlaubt uns, Verluste zu betrauern und sie in unser Leben zu integrieren. Sie erlaubt uns, zu verstehen, dass etwas von großer Bedeutung für uns verloren gegangen ist. Und aus diesem Verständnis heraus können wir wachsen und uns weiterentwickeln.
All das musste ich erst über die Jahre lernen. Dazu gehört auch, dass ich mich eben nicht verstecken oder grundlos entschuldigen muss. Stattdessen spreche ich heute meine Trauer und Wut offen an.
Denn wie sonst könnte ich jemals hoffen, irgendeine Form von Wandel zu bewirken, wenn ich nicht bereit wäre, mich der ganzen Bandbreite meiner Emotionen zu öffnen? Und genau das habe ich getan. Ich habe meine Wut und meine Trauer als Antrieb genutzt, um den Weg zu gehen, den ich gegangen bin. Ich habe mich geweigert, stillzusitzen und zuzusehen, wie Unrecht geschieht, nur um nicht ausgeschlossen zu werden. Gott ist es wert, für seine Botschaft einzustehen. Alles andere ist vergänglich. Genau wie der soziale Ausschluss, welcher ebenfalls vergänglich ist. Auch der ist vergänglich. Ich erhebe deshalb meine Stimme, nutze meine Fähigkeiten, um für die schönste und natürlichste Botschaft zu verbreiten: endlich muslim zu sein.
Es gibt für mich viel zu tun. Aus der gesunden Wut und der gesunden Trauer entsteht jetzt etwas Wunderschönes. Etwas Authentisches. Etwas Ehrliches. Es gibt noch so viele Menschen, deren Herzen berührt werden wollen. Deren Seele nach Ehrlichkeit, Transparenz und Klarheit dürstet. Menschen, die verzweifelt nach Orientierung suchen und stattdessen auf falsche Lehrer stoßen, die sie in die Knechtschaft von anderen Menschen schicken oder festhalten. Und ich fühle mich berufen, eine andere Perspektive zu bieten, eine Perspektive, die auf Transparenz, Authentizität und Wahrheit basiert, anstatt auf Macht und Kontrolle. Denn Wahrheit kann nur durch Transparenz zum Vorschein kommen. Und das tut sie dann natürlich, ohne dass jemand sie jemandem eintrichtern muss.
So ist es mein Anliegen, durch meine Arbeit, meine Worte und meine Taten zu einer Veränderung beizutragen. Ich möchte Menschen zeigen, dass Glauben nicht bedeutet, blind zu folgen, sondern vielmehr, kritisch zu denken, sich selbst zu hinterfragen und die Freiheit zu erlangen, die uns Gott gewährt und andere stets versuchen, uns wegzunehmen. Ich will den Menschen zeigen, dass der wahre Glaube nicht darin besteht, sich unterzuordnen, sondern darin, sich selbst und andere zu respektieren und zu lieben, damit sich alle auf die schönste Art entfalten können.
Schließlich ist meine Theorie vom gesunden Glauben entstanden, die auf einer natürlichen Weise das Motto dieser Reise und dieses Newsletters bestimmt: endlichmuslim!
Meine Wut und meine Trauer sind also nicht nur Gefühle, die ich in meinem Herzen trage. Sie sind ein ständiger Maßstab, der mein Leben vom Ungesunden freihält, um das Gesunde, das Schöne so oft wie möglich zu leben und damit andere zu berühren und zu inspirieren. Ich bin fest entschlossen, diesen Weg weiterzugehen. Denn ich glaube daran, dass wir Veränderungen bewirken können. Ich glaube daran, dass wir den Menschen helfen können, einen gesunden Glauben zu finden. Und ich glaube daran, dass wir dabei helfen können, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
In tiefer Verbundenheit!
Auf bald, Du schöne Seele!